Angstgefühle, Sorgen und Lampenfieber sind ein häufiges Thema beim Musizieren. Und sie können jeden treffen. Ein heikler Lagenwechsel, eine schnelle Passage oder die Anwesenheit einer vermeintlich kritischen Person — und wir bekommen es mit der Angst zu tun. Beim Auftreten vor Publikum trifft so manch einen die Angst oder das Lampenfieber wie eine Keule, unerwartet und heftig. Auslöser sind nicht allzu selten „Angststellen“, also bestimmte Passagen, die wir bereits beim Üben mit einem gewissen Gefühl der Sorge und Unsicherheit belegt haben. Verfestigen sich diese Gefühle, können sie sich zu einem schier unüberwindbaren Hindernis auswachsen.
Frei von Angst zu musizieren, auch vor Publikum, ist hingegen ein wunderbares Erlebnis (klar, eine gewisse Spannung und ein gewisses Maß an Lampenfieber gehören dazu und können bekanntermaßen auch produktiv und beflügelnd wirken). Zum Glück tragen wir in uns selbst die Möglichkeiten, uns diesen Wunsch zu erfüllen. So möchte ich im Folgenden Tipps geben, wie wir Angstgefühle einerseits durch einen Transfer positiver Emotionen (etwa aus dem nicht-musikalischen Alltag) und andererseits mit einem Fokus auf den musikalischen Ausdruck wegtrainieren können.
Der Grundgedanke: Angst und Sorgen beim Üben durch positive Emotionen ersetzen
Der Grundgedanke ist, dass wir Angst und Sorge durch jene Gefühle ersetzen, die wir empfinden möchten. Das klingt banal, funktioniert aber. Und es muss — wie beinahe alles am Instrument — trainiert und geübt werden!
Musik drückt Gefühle aus. Töne, Phrasen, Melodien sind Erzählungen von Gefühlen. Beim Üben fokussieren wir hingegen technische Herausforderungen. Das ist wichtig und richtig, kann aber manchmal auch problematisch sein. Beim Üben eines weiten Lagenwechsels kann etwa der Fokus auf das Gelingen des technischen Aspekts liegen, Emotionalität oder Ausdruck spielen keine Rolle mehr. Stattdessen lassen wir die Sorge, ob wir den Ton wohl treffen werden, das Ruder übernehmen. Und so üben wir nicht nur einen Lagenwechsel, sondern trainieren an dieser Stelle des Stückes die Sorge oder sogar Angst vor dem nächsten Ton gleich mit — keine gute Strategie!
Im besten Fall treffen wir den Ton bei der Aufführung. Was nützt es aber, wenn uns dann gerade die Unsicherheit übermannt. Oder wenn wir — und dass ist sicher der angenehmere Fall — die ganze Passage mit dem falschen musikalischen Ausdruck darbieten? Ich würde dann schon eher für den umgekehrten Weg plädieren: richtiger Ausdruck und — wenn es dann eben passiert — falscher Ton! (Klar, Ziel ist natürlich der richtiger Ton und der passende Ausdruck!).
2 Übungen, wie sich Ängste beim Üben ganz konkret wegtrainieren lassen
Übung 1: Körpergefühl, musikalischer Ausdruck, Lebenserfahrung und Phantasie
Lasst uns spüren, wie wir Körpergefühl und musikalisches Gefühl miteinander verbinden können!
Nehmen wir an, wir möchten einen satten, vollen, souveränen, zufriedenen, überzeugten Klang produzieren, also ein Grundgefühl, das ganz konträr zur Angst steht.
Wann haben wir so eine Situation kennengelernt? Oder wie stellen wir uns so eine Situation vor? Deiner Lebenserfahrung und deiner Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt…
Letztens habe ich einem Schüler folgendes Bild gegeben: Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt in einem glänzenden Mercedes zu sitzen? Schönes Wetter. Du stehst an der Ampel, hörst das Motorgeräusch und freust dich aufs Losfahren. Wie fühlst du dich als so ein Mercedesfahrer? Zufrieden, reich, souverän, überlegen, herrschaftlich, frei…(Ich weiß nicht, welche Assoziationen er hatte, aber Körperhaltung und Klang waren überzeugend.)
Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du dich in diese Situation hineindenkst und hineinfühlst? Arme, Schulter, Rücken, Beine, Atmung… Und in dieser Stimmung spiele nun zuerst einfach leere Saiten und danach eine kleine Phrase. Wichtig: Dein erstes und vorerst einziges Ziel ist es, dieses befriedigende Gefühl zu behalten!
Nachdem der Schüler einen überzeugenden „Mercedes-Klang“ dargeboten hat, habe ich versuchshalber gefragt: Und wie klingt es, wenn du dir vorstellst in einem Porsche zu sitzen? Was habe ich gelacht, wie deutlich der Unterschied war!
Übung 2: musikalischer Ausdruck
Lasst uns nun einen größeren Lagenwechsel nach oben, wie zu Beginn erwähnt, unter die Lupe nehmen. Am besten gleich aus dem Stück, das du gerade übst. Die „hard facts“ müssen zuerst geklärt sein, nicht aber geübt! Wie beispielsweise: Von wo aus starte ich? Wie soll der Zielton klingen? In welcher Lage lande ich? Um welches Intervall handelt es sich? Welchen Bogenstrich verwende ich?
Schritt 1
Was wollte der Komponist mit diesem großen Intervall ausdrücken? Meist sind es positive Gefühlen wie: Freude, Jubel, Überschwang oder Begeisterung. Sammle passende Worte und Bilder für die Stelle. So wie du sie spielen möchtest.
Dann versetze dich in eine Situation aus dem Alltag: Wenn wir uns begeistern, Freude oder Jubel empfinden, dann wird unsere Stimme lauter, intensiver, höher oder wir lassen gar einen Juchezer raus. Probier’s gleich mal aus. Juhuuii! Was macht deine Stimme? Wie klingt sie? Und so wir können an unserem Körper etwas ganz Wunderbares beobachten. Was machen wir, wenn wir jubeln? Wir springen auf vor Freude, wir werfen die Arme in die Höhe, wir zeigen mit dem ganzen Arm voller Begeisterung auf das Schöne, das wir gerade entdeckt haben usw. Gerade die Arme machen eine freie, großzügige Bewegung. Und genau dieses Gefühl im Arm können wir für den Lagenwechsel nützen. Plötzlich ist eine Oktave ganz klein für den Arm, weil er vor Begeisterung am liebsten übers ganze Griffbrett sausen würde.
Mit diesem Körpergefühl singe dann den Tonwechsel und machen in der Luft eine Lagenwechselbewegung, die ein Zwischending aus technischer Ausführung am Instrument und einer natürlichen emotionalen Geste ist. Wiederhole das ein paar Mal. Freue dich über dein unbeschwertes Körpergefühl und speichere es.
Schritt 2
Dann erst nähere dich den genauen Tönen. Das Ohr gibt Rückmeldung, ob der Lagenwechsel passend war. Auch hier gilt: Versuche nicht sofort den korrekten Ton zu treffen, sondern spiele mit der Intensität deiner Gefühle. Der erste Versuch geht oft viel zu weit. Das ist gut so! Schon deshalb, weil dein Körper sich freier und unbefangen bewegen durfte. Zu wenig weit — hat sich vielleicht doch bremsende Angst eingeschlichen? Manchmal wollen wir auch zu sehr kontrollieren, weil wir unserem Körpergefühl zu wenig vertrauen. Reflektiere selbst bevor du eine Wiederholung spielst. Versuche dann technische und emotionale Bewegung zusammenfließen zu lassen. Nimm die vielen Versuche, die du machen wirst, als Informationsquelle und wiederhole möglichst oft die ideale Version. Und zwar genau mit dem Gefühl, das du auf der Bühne empfinden möchtest!
Sei es nun ein Gefühl, das wir bewusst einsetzen oder ein Gefühl, das durch die gespielte Musik erzeugt wird — es bleibt kein Platz für Angst.